Mit lebenssverachtender Opferbereitschaft
Bekämpft die Verhältnisse - nicht die Menschen
"Bombenstimmung" herrscht in Israel - Die Angst vor Terroranschlägen bestimmt das tägliche Leben und ist alles andere als Paranoia. Bewaffnete israelische Soldaten begleiteten standardmäßig die Busse des ÖPNV und stehen in Jerusalem an jeder zweiten Straßenkreuzung. Zum ganz normalen Alltag gehören die Taschenkontrollen am Eingang von Kaufhäusern und öffentlichen Gebäuden. Ganz zu schweigen von den üblichen Gepäck- und Personenkontrollen an Flughäfen, gegen die sich alles, was seit dem 11. September anderenorts üblich ist, ziemlich lächerlich ausmacht. Eine liegen gelassene Tasche oder Einkaufstüte ruft in Tel Aviv innerhalb von wenigen Minuten den Sicherheitsdienst auf den Plan. All das ist Alltag in Israel, denn die Killer im Namen der palästinensischen Sache sprengen alles - Militärpatrouillen, Busse, Diskotheken, Cafés, Schulkinder und Marktstände. Niemand in Israel ist davor sicher, weil sich die Angriffe nicht allein gegen Militär oder staatliche Einrichtungen, sondern gegen alle Menschen und ihre täglichen Unternehmungen richten. Für die Attentäter und ihre Auftraggeber ist die Zahl der getöteten Juden und die verursachte Panik in der israelischen Gesellschaft der Erfolgsmaßstab. Siedler oder Kommunist, Atheist oder orthodoxer Jude - für die "lebenden Bomben" sind die Juden an sich der Feind. Diese merkwürdige Sorte von "Befreiungskämpfer" ist in der palästinensischen Gesellschaft jedoch alles andere als isoliert. Die Beerdigungen der Märtyrer sind große Happenings und die Kämpfer von Hamas und Al-Aksa-Brigade müssen nur mit wenig Kritik aus den eigenen Reihen rechnen. Dabei würde die Frage durchaus Sinn machen, auf was ein Befreiungskampf zielt, der die Vernichtung der eigenen Existenz nicht nur als Risiko in Kauf nimmt, sondern zum Mittel macht. Wer so kämpft, dem kann es schlechterdings nicht um die Verbesserung der eigenen Lebensverhältnisse gehen, der tötet im Namen höherer Dinge - für Gott und Nation.
Die Attentäter wollen den 1948 gegründeten Judenstaat am liebsten ins Mittelmeer zurückbomben. Sie pflegen spätestens seit der Staatsgründung eine prinzipielle Feindschaft gegen die Juden, welche den davon Betroffenen nur allzu gut bekannt war. Die zionistische Idee eines Judenstaats hat ihren Ursprung in der über Jahrhunderte üblich gewordenen Ausgrenzung und Verfolgung der europäischen Juden. Die antisemitischen Exzesse fanden ihren unübertroffenen Höhepunkt in der Ermordung von 6 Millionen europäischer Juden durch die Nationalsozialisten. Die Verfolgten suchten, wo sie konnten, ihr Heil der Flucht. Herzls Idee, einen Staat zu gründen, in welchem die Juden eine Heimstätte finden sollten, stieß bei den Flüchtlingen auf offene Ohren.
Der vor 1933 verschwindend kleinen zionistischen Bewegung wurden durch den deutschen Faschismus Tausende Verfolgte in die Arme getrieben. Selbst Menschen, die zuvor nicht auf die Idee gekommen wären, sich als Juden zu verstehen, geschweige denn dafür freiwillig in die Wüste zu gehen, besiedelten nun notgedrungen Eretz Israel.
Das nationalistische Durchknallen der Palästinenser kommt nicht von ungefähr. Zwar wurde in der Unabhänigkeitserklärung Israels den Arabern die Hand zum Frieden gereicht, gleichzeitig wurden sie im Judenstaat allerdings nur Staatsbürger 2. Klasse. Es gibt zwar keine Ausgrenzung per Gesetz, doch in der gesellschaftlichen Praxis wird erheblich nach rassistischen Kriterien sortiert. So werden die muslimischen israelischen Araber nicht zum Militärdienst gezogen. Was erst einmal nach einem Vorzug ausschaut, verbaut den Betroffenen ziemlich viele Möglichkeiten. Bei Bewerbungen für Hochschule, Wohnungen und Jobs gehören die Entlassungspapiere der Armee nämlich zu den üblicherweise geforderten Unterlagen. Und für die Nicht-Juden in der seit 35 Jahren besetzten Westbank sieht es noch schlechter aus. Zwar steht da seit Jahr und Tag die israelische Armee, aber Staatsbürger werden die dort Lebenden noch lange nicht. Einwandern können nach Israel alle Juden - jeder Jude ist potentiell Staatsbürger Israels. Das war es dann aber auch. Und wer Jude ist, entscheidet mitnichten das Glaubensbekenntnis, sondern die korrekte Abstammung. Nur ein Kind einer jüdischen Mutter hat das Zeug zum Juden - und damit kann so ziemlich kein Araber dienen.
Ebenso wie in Israel finden die seit Jahren in Lagern lebenden Flüchtlinge aus Palästina auch in den arabischen "Bruderstaaten" keine allzu herzliche Aufnahme. Als Flüchtlinge dienen sie den arabischen Staaten als lebendiger Rechtstitel gegen Israel. Genau deshalb bleiben sie Flüchtlinge und werden auch nach 40 Jahren nicht als syrische Staatsbürger willkommen geheißen.
Die von der ganzen Staatenwelt im Nahen Osten Ausgegrenzten wurden ob ihres Schicksals keineswegs zu Staatskritikern. Mit lebensverachtender Opferbereitschaft versuchen sie Israel ein eigenes Stück Land abzutrotzen um wenigstens unter einer eigenen Herrschaft schlecht Leben zu dürfen. Weder die linke Forderung "Solidarität mit dem Palästinensischen Volk" noch der Ruf nach "Solidarität mit Israel" scheint mir deshalb viel Sinn zu machen. Als Sozialistische Jugend sollten wir mit denen solidarisch sein, mit denen wir gemeinsame Ziele teilen. Dies sind weder Staaten, Nationen oder Völker, also weder der Staat Israel noch das "palästinensische Volk". Auch im Nahen Osten ist "Volk" nichts weiter als die unheilvolle Vorstellung, die Bürger eines Staates hätten mehr gemein als die selbe Herrschaft bzw. selbige komme ihnen von Natur aus zu. Solidarisch sollten wir mit denen sein, die sich um Frieden und um gute Lebensverhältnisse bemühen. Denen egal ist, ob sie in israelische oder palästinensische Gewehrläufe blicken, sondern die in staatlicher Gewalt nie ihr Interesse wirken sehen. Unterstützen sollten wir Sozialisten im Nahen Osten, die vor ihrer eigenen Nation genauso Angst haben wie vor jeder anderen. Die weder Jude noch Palästinenser sein wollen, sondern die die Verhältnisse bekämpfen, die sie dazu machen.
Arno Kunz, Bundes-SJ-Ring