Roter September in der Ukraine
Chronik der Ereignisse, Kiev, 16. - 17. September 2003
Jeder Mensch in der Ukraine sah, dass es nichts zu sehen gab: alle Bildschirme blieben schwarz. Die meisten UkrainerInnen, die in den Vororten Kiews leben, mussten feststellen, dass das öffentliche Verkehrssystem ausgefallen war und sie nicht zur Arbeit gehen konnten. Als ich mich endlich zu unserem SMS Headquater durchgekämpft hatte, wusste ich schon, dass die Staatsmacht sich auf unsere Aktionen vorbereitet hatte. Aber ich wusste nicht, dass die wirklichen Überraschungen noch auf uns warteten.
... alle Bildschirme blieben schwarz.
SMS AktivistInnen, die im Winter 2000 bis 2001 ausgebildet worden waren, ähneln gut ausgebildeten GeheimagentInnen. Irgendwie gelang es ihnen der Polizei nicht weiter aufzufallen und sie schafften es bis ins Zentrum von Kiew.
Wir hatten Angst um unsere Sicherheit ...
Wir sammelten unsere 500 Menschen zählende unbewaffnete Kolonne und gingen los, unsere Gesichter mit roten Servietten halb vermummt. Das sollte symbolisieren, dass Studierende in der Ukraine mit verschlossenen Mündern leben müssen, oder frei übersetzt: wir hatten Angst um unsere Sicherheit. Wir spannten ein Seil um unsere Kolonne, damit sich niemand von außen in unsere Gruppe schleichen und Gewalt provozieren konnte. Vielleicht kennt ihr unseren Weg: drei Kolonnen gingen in einem Sternmarsch in Richtung der europäischen Kreuzung. Als wir gerade losgegangen waren, wurde O. Starinets, der unsere Gruppe geführt hatte, von einem LKW angefahren. Ich habe mir die Szene später viele Male auf Video angesehen und bin mir nicht mehr sicher, ob es ein Unfall war. Trotz alledem marschierte er - als echter Veteran - mit bandagierten Kopf weiter.
Ich bin mir nicht mehr sicher ob es ein Unfall war ...
Auf der Straße trafen wir auf viel Verständnis, von FahrerInnen und einer großen Menge von wissbegierigen Menschen. Die Straßen waren voll von abwesenden Polizisten.
Bist du jemals in einer Menge von hunderttausend Freundinnen und Freunden verloren gegangen? Das ist ein fantastisches Gefühl! Trotz Sprühregen herrschte im Zentrum von Kiew eine strahlende starke Atmosphäre und mit donnernden Stimmen schrien wir: "Kutschma, hau ab!!!"
"Kutschma, hau ab!!!"
Die SMS Mitglieder glaubten fast, dass ihr Lebenslauf in Zukunft einige Tage vom Leben in einem Zeltlager mitten in Kiew beinhalten würde. Aberkurz vor der Dämmerung brach der Orkan von pferdlosen behelmten und mit Gummischwertern bewaffneten präsidialen Rittern über uns herein und attackierten unsere Fluchtburgen- oder besser Fluchtzelte. Sie führten die Entscheidung des Gerichtes aus. Wenn dich Gummischwerter schlagen und dich Beine treten, bist du ein schlechter Anwalt, wenn du weiter über die Gesetzmäßigkeit deiner Behausung argumentierst und nicht die einzige mögliche Taktik wählst: die Flucht.
Zig Menschen verwundet ...
Zig Menschen verwundet; und alle Zelte und Matratzen: unser Tribut an die präsidialen Ritter, neun SMS Mitglieder in den Gefängnissen von Kiev - das war das Ergebnis des "ukrainischen Frühlings" im September.
neun SMS Mitglieder in den Gefängnissen von Kiev ...
Als Menschen des 21. Jahrhunderts sind wir es gewohnt, unsere Informationen via Bildschirm oder Fernseher zu bekommen. Aber als ich die Morgennachrichten am 17. September gesehen hatte, musste ich eine Entscheidung treffen: entweder den friedlichen Lobhudeleien auf dem Bildschirm zu trauen - oder meinen eigenen Augen. Der Fernseher erzählte mir, dass Kutschma bei erfolgreichen Verhandlungen in Salzburg gemeint hätte, dass die Ukraine in ca. 20 Jahren in die EU aufgenommen werden könnte, der Bildschirm erzählte weiter, dass sich 10 000 Menschen, in erster Linie RentnerInnen, am europäischen Platz versammelt hätten, um Oppositionsführern zuzuhören, aber der Bildschirm erzählte rein gar nichts von den präsidialen Rittern!
Wir mussten unsere GenossInnen befreien.
Aufgrund unserer Erfahrung erkannten wir, dass von den Polizisten der "Salzburger Touristen" keine Hilfe zu erwarten war. Wir waren uns der Tatsache bewusst, dass die Massenmedien nicht die Fackel der Erleuchtung in die Welt tragen sondern viel mehr Gehirn-Waschmaschinen sind. Wir mussten unsere GenossInnen befreien. Die Demonstrationen dauerten bis zum 24. September. Die Letzte war die bekannteste. Wir wollten den Präsidenten in seinem Amtssitz treffen um ihn zu fragen, ob er zurücktreten wolle. Aber dieser "mutige" Mann traf sich nicht mit uns. Statt dessen standen wir wieder unseren vertrauten Rittern gegenüber, die seit dem 16. September zigfach geklont worden waren. Es stellte sich heraus, das dies sehr nützlich war: es waren so viele von ihnen da, dass unsere Demo einer optischen Illusion unterlag und riesengroß wirkte. Nebenbei bemalten wir die Schilder der Polizisten mit dem Spruch "Kutschma verpiss dich!" Dann legten sie bis zum Abend Hand an. Wir fanden heraus, dass ein innerer zweiter Polizeigürtel unsere Parlamentsabgeordneten am Betreten des Amtssitzes hinderte . Sie ließen daraufhin verlauten, dass sie so lange in den Hungerstreik treten würden, bis Kutschma sich mit ihnen trifft. Dies tat er - am nächsten Morgen.
Wir geben nicht auf!
Der "Kolchuga" Skandal dauert bis heute an und die Regierungen weltweit können einen guten Eindruck von dem verführerischen Verhalten der ukrainischen Regierung bekommen: "Lass es uns versuchen und kriegt uns!" So fühlten wir uns, als wir zum hundertsten Mal im Zentrum unserer Heimatstadt herum liefen, und versuchten, den teuflischen Schatten des Präsidenten zu fangen. Der Schatten, der aus der ukrainischen Geschichte hinaus gewischt werden muss. Dafür stehen wir als Mitglieder der Union der Sozialistischen Jugend. Wir geben nicht auf!
Olena Prymak, SMS Deputy International Secretary